Habitus und Sozialprofil von deutschen und polnischen Gelehrten in Deutschland

Habitus und Sozialprofil von deutschen und polnischen Gelehrten in Deutschland

Organisatoren
Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung Frankfurt an der Oder; Universität Stettin; Technische Universität Koszalin
Ort
Pobierowo
Land
Poland
Vom - Bis
19.11.2009 - 22.11.2009
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Von
Maria Rhode, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Unter der Schirmherrschaft von Rita Süßmuth und mit großzügiger Unterstützung der deutsch-polnischen Wissenschaftsstiftung Frankfurt/Oder, der Universität Stettin und der Technischen Universität Koszalin fand im polnischen Pobierowo eine Tagung zum Thema „Habitus und Sozialprofil von deutschen und polnischen Gelehrten in Deutschland“ statt. Der Ideengeber, Eberhard Demm, hatte über die engen Disziplingrenzen hinweg Vertreterinnen und Vertreter der Geschichts-, der Kunstwissenschaft, der Theologie, Germanistik und Soziologie eingeladen, die mittlerweile klassisch gewordene Kategorie des Habitus auf die jeweiligen prosopografischen wie individualbiografischen Untersuchungen anzuwenden und ihre Tragfähigkeit kritisch zu überprüfen.

Die Tagung behandelte in drei epochalen Blöcken Fremdbilder, Selbstinszenierungen, Karriereverläufe und Rollenverständnisse von Gelehrten vom 18. bis zum 20 Jahrhundert. Besonderes Interesse galt der Universität Heidelberg und ihren Gelehrten.

Die Literaturwissenschaftlerin MARGRIT VOGT (Berlin) zeigte die Wandlung gelehrter Selbstinszenierung von der Früh- bis zur Spätaufklärung anhand ihrer Analyse von Kupferporträts in literarischen Zeitschriften. Standen die frühaufklärerischen Porträts in der Tradition der Darstellung als prachtvoll gekleidete Universalgelehrte vor repräsentativen, überfüllten Bücherregalen, seien die Inszenierungen der spätaufklärerischen Gelehrten dem Ideal der Reduktion auf das denkende Individuum verpflichtet gewesen.

SUSAN SPLINTER (München) untersuchte am Beispiel von Christian Gottlieb Kratzenstein (1723-1795), einem Professor der Experimentalphysik und der Medizin, die verschiedenen Rollen und den variierenden Handlungsspielraum an den Akademien und Universitäten von Petersburg und Kopenhagen. Überall dort, wo der Hof Gelehrtenkarrieren beeinflusst hat (Petersburger Akademie der Wissenshaften und Kopenhagener Universität), seien Kratzensteins akademischen Einflussmöglichkeiten Grenzen gesetzt gewesen.

NEILL BUSSE (Gießen) präsentierte auf einer breiten Materialbasis und mit den Methoden der Netzwerkanalyse die sozialen, wissenschaftspolitischen, ökonomischen und familiären Verbindungen des Gießener Chemikers Justus Liebig (1803-1873). Er zeigte, wie es Liebig gelingen konnte, Gießen innerhalb kürzester Zeit zu einem international begehrten Studienort zu machen. Der Chemiker habe es unter anderem verstanden mit gezielter Heiratspolitik und kulturellen Praktiken der Distinktion die Gruppenbildung zu befördern und zu festigen.

Den Karrierechancen protestantischer Theologen ging JOHANNES WISCHMEYER (Mainz) nach. Beruhend auf Akten der Universitäten Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin analysierte er unter anderem ihren langen Weg bis zur Erstberufung. Die Mehrheit der Theologen habe das ursprüngliche Habilitationsvorhaben und damit verknüpfte Karriereziel aufgegeben und in der Regel schulische und kirchliche Ämter übernommen. Einer kleinen Elite hingegen sei es gelungen im Durchschnitt mit über 30 Jahren und einem verhältnismäßig langen Zeitraum zwischen Dissertation und Habilitation (6 Jahre) die Erstberufung zu erreichen.

JAROSŁAW SUCHOPLES (Szczecin) konnte zeigen, dass die Friedrich Wilhelm Universität seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert zum Anziehungspunkt polnischer Intellektueller wurde und bis heute ihre Strahlkraft nicht verloren hat. Die Entscheidung für Berlin als Bildungsstätte und Lebensmittelpunkt sei im 19. Jahrhundert wesentlich der Umsetzung des Humboldtschen Bildungsideals und dem Ruf einzelner Professoren (Hegel) zu verdanken. Bis zum Ersten Weltkrieg sei die Integration in die akademische Welt formal problemlos und praktisch in der Regel frei von kulturellen Vorbehalten gewesen.

Am Beispiel einer biografischen Analyse Aleksander Brückners (1856-1939), eines polnischen Berliner Slavisten, zeigte MARIA RHODE (Göttingen) die Handlungsspielräume von Gelehrten mit mehrfacher kultureller Prägung und fluider Identität. Brückners unsichere Position im universitären Feld der Friedrich Wilhelm Universität ließe sich nicht nur mit Blick auf seine politische Haltung erklären. Sie ergab sich aus seinem von der bürgerlichen Norm abweichenden Habitus.

Die folgenden zwei Vorträge thematisierten exemplarisch den Lebensweg zweier Jenaer Wissenschaftler. UWE DAHTE (Braunschweig) präsentierte eine für die Fragestellungen der Tagung besonders ergiebige und umfangreiche Quelle, das Tagebuch des Historikers Alexander Cartellieri. Der Jenaer Professor notierte über 40 Jahre lang ohne Unterbrechung Eindrücke und Beobachtungen seiner Lebenswelt im Spannungsfeld zwischen Universität, Politik und Privatleben.

Vom akademischen Scheitern auf hohem Niveau sprach MATHIAS STEINBACH (Braunschweig) am Beispiel des, zu seiner Zeit bekannten, Mathematikers Adolf Piltz (1855-1940). Piltz‘ vom Habitus eines Gelehrten abweichende Lebensweise habe in der Kleinstadt Jena zum Ausschluss aus der Gelehrtengemeinschaft und dem angeordneten Rücktritt als Mathematikprofessor geführt. Gleichzeitig sorgte sein Ruf als genialer aber gescheiterter Professor für den anschließenden Erfolg als Zeitungsredakteur und Mathematiklehrer im Thüringischen Bad Sulza. Steinbach plädierte generell dafür, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte mit der Stadtgeschichte zu verknüpfen und das bisher vernachlässigte Thema der scheiternden Gelehrten in Studien zur Universitätsgeschichte zu integrieren.

PETER MEUSBURGER (Heidelberg) beschäftigte sich am Beispiel Heidelbergs mit der Frage nach Aufstieg und Fall von Universitäten. Er zeigte, dass die politischen Rahmenbedingungen, die Berufungspolitik der Universität und die besondere Tradition der Heidelberger Diskussionskultur zum besonderen Renommee der Universität Heidelberg im 19. Jahrhundert beigetragen haben. Die gesteigerte Reputation der Universität ließe sich an mehreren Faktoren ablesen, insbesondere im geografisch ausgeweiteten Rekrutierungsgebiet der Professoren sowie der Steigerung der Anzahl von Rufen vor Amtsantritt einer Professur in Heidelberg.

Für die Zeit der Weimarer Republik konstatierte CHRISTIAN JANSEN (TU Berlin), der These seiner Dissertation folgend, dass die Entfremdung der Gelehrten von der Demokratie der Weimarer Republik, entgegen der häufig von ihnen erhobenen Klagen, nicht durch materielle Verluste begründet werden könne. Sie ergebe sich vielmehr aus der Unterwerfung der Professoren unter das Beamtenrecht und den damit verbundenen Statuseinbußen.

FOLKER REICHERT (Stuttgart) zeichnete die bürgerliche Lebenswelt des Heidelberger Mediävisten Karl Hampe (1869-1936) nach. Aus einem reichen Fundus an Tagebuchaufzeichnungen und Briefen rekonstruierte er Hampes Selbstdarstellung als Professor, Ehemann und Vater, die dem gängigen Rollenverständnis entsprach.

In ihrem Beitrag über Marianne Weber beschrieb BARBARA MEURER (Bielefeld) den beschwerlichen Weg Marianne Webers (1870-1954) an die Heidelberger Universität. Die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Ehefrau des Soziologen Max Weber studierte zwar Philosophie, Erkenntnistheorie und Nationalökonomie, wurde aber nicht zur Promotion zugelassen. Ein alternatives Wirkungsfeld fand sie dank ihrer persönlichen Erfahrung, ihrer Bildung und ihrer Beziehungen in der Frauenbewegung.

Einen Sonderfall eines Gelehrten stellte, wie EBERHARD DEMM (Politechnika Koszalin) zeigen konnte, der Sozial- und Staatswissenschaftler Alfred Weber (1868-1958) dar. Sein ausgeprägtes Interesse für die soziale Frage, sein politisches Engagement, das er unter anderem 1933 mit der vorzeitigen Emeritierung bekundete und seine Offenheit für neue wissenschaftliche Ansätze unterscheiden ihn von dem Gros seiner akademischen Kollegen.

Werner Conzes (1910-1986) Haltung gegenüber der Hochschulreform der 1960er-Jahre war Thema des Vortrags von JAN EIKE DUNKHASE (Berlin). Conze, seit 1957 Professor in der Hochphase der Studentenproteste Rektor in Heidelberg, beklagte 1979 im Rückblick auf seine Universitätslaufbahn, dass das Humboldt‘sche Bildungsideal an deutschen Universitäten in Folge der Bildungsreform der Hochschulen nicht annähernd realisiert wurde und die Qualität der Forschung unter den quantitativen Vorgaben gelitten habe.

Als Zeitzeuge der Heidelberger Reformdiskussion der 1960er-Jahre berichtete HARTMUT SOELL (Heidelberg) von der Verhärtung der Fronten an der Universität. Die Mehrheit der Professoren habe sich zwar für die Abschaffung der Ordinarienuniversität ausgesprochen, weitergehende Reformenjedoch abgelehnt.

Den Bogen zur Gegenwart spannten die Beiträge von INGRID HAUDABIUNIGG (Chemnitz), LEONARD HERRMANN (Leipzig) und KATHRIN KLOHS. Hudabiunigg präsentierte die Ergebnisse ihrer Analyse narrativer Interviews von Professorinnen (Jahrgang 1940-1950) an deutschen Universitäten. Alle befragten Natur- und Geisteswissenschaftlerinnen teilen eine durch das bürgerliche Elternhaus vermittelte Leistungsbereitschaft und die Erfahrung fehlender weiblicher Vorbilder im akademischen Leben. Im Rückblick auf ihre erfolgreichen Karrieren mischen sich Resignation und Frustration über erlebte Diskriminierung oder persönliche Opfer mit dem Gefühl der Zufriedenheit über die erreichten akademischen Ziele.

Die Dekonstruktion des Gelehrtenmythos in literarischen Werken der Gegenwartsliteratur war Gegenstand des Beitrags von Leonhard Herrmann (Leipzig). Die in Werken von Daniel Kehlmann und Raoul Schrott vor allem als Suchende und Scheiternde dargestellten Gelehrten versteht Herrmann als literarische Auseinandersetzung mit den Erkenntnis- und Bewusstseinsdiskursen der Gegenwart: Die Produktion von stabilem Wissen erweise sich fortan als illusorisch. Kathrin Klohs (Freiburg) zeigte in ihrer Analyse zeitgenössischer Campusromane und ihrer Rezeption, dass die Realität der akademischen Lebenswelt durch narrative Strategien glaubhafter und eindrücklicher vermittelt werden könne als durch Presseberichte und soziologische Studien.

Ob kollektiv-biografische Untersuchungen oder die dichte Beschreibung einer Individualbiografie, beide Zugänge erweisen sich in der Frage nach Habitus und Sozialprofil jeweils als ein notwendiges Korrektiv: Hoch aggregierte Daten lassen bekanntlich keine Rückschlüsse auf das Individuum zu, umgekehrt kann die Frage nach dem Typischen im Brennglas einer Mikrostudie ohne Rückbindung an das Große der Gruppe, Schicht oder Institution nicht beantwortet werden. Im Rückblick auf die Tagung und insbesondere auf die kontroverse Schlussdiskussion zum Konzept des anvisierten Tagungsbandes kann man festhalten, dass das Profil für die Veröffentlichung des Tagungsbandes noch geschärft und Fragestellungen sowie die neuesten Forschungsergebnisse der Körpergeschichte produktiv eingebunden werden sollten, ohne deswegen auf den fruchtbaren und interdisziplinären Ansatz zur Porträtierung von Gelehrten vom 18. bis zum 20. Jahrhundert verzichten zu müssen.

Konferenzübersicht

I Gelehrtenkritik um 1800

Margit Vogt: Gelehrte Selbstinszenierung in Wort und Bild im 18. Jahrhundert
Susan Splinter: Rollen und Rollenkonflikte eins Gelehrten am Beispiel von Christian Gottlieb Kratzenstein (1723-1795) (Referat wurde verlesen)

Diskussion

II Das lange 19. Jahrhundert

1. Netzwerke und prosopografische Untersuchungen

Neill Busse: Sozialprofil und Kulturgeschichte des akademischen Netzwerks am Beispiel von Justus Liebig und seinen Schülern

Johannes Wischmeyer: Karrierewege und Lebensstil der deutschen Theologieprofessoren im 19. Jahrhundert

Jarosław Suchoples: Polish Scholars in the Academic World of Berlin

Diskussion

2. Biographische Untersuchungen

Maria Rhode: Ein polnischer Gelehrter in Berlin: Aleksander Brückner

Uwe Dathe: Die Tagebücher Alexander Cartellieris: Der Jenaer Historiker im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Familie

Matthias Steinbach: Verlotterter Privatdozent: Adolf Piltz

Diskussion

3. Eine Fallstudie: die Universität Heidelberg

Peter Meusburger: Heidelberger Gelehrte 1803-1932

Folker Reichert: Das Haus am Werderplatz. Gelehrsamkeit und Familienleben am Beispiel Karl Hampes

Barbara Meurer: Marianne Weber und ihr Traum von der gelehrten Welt (Referat wurde verlesen)

Eberhard Demm: Alfred Weber – Machtkapital, Netzwerke und Lebensstil

Christian Jansen: Selbstinszenierung, Selbstverständnis und politische Haltung der Heidelberger Gelehrten 1914-35 (Referat wurde verlesen)

III Die neueste Zeit

Ingrid Hudabiunigg: „Zweite“ Frauenbewegung: Aufstieg in der Wissenschaft?

Jan Eike Dukhase: Gelehrtendämmerung. Werner Conzes Abschied von der Universität
Zeitzeugen Harmut Soell, Ingrid Hudabuinigg

Leonard Herrmann: (Selbst)-Inszenierungen des Gelehrten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Kathrin Klohs, M.A.: Die dunkle Seite der Macht – Leiden an der Wissenschaft in Texten der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (Referat wurde verlesen)

Abschlussdiskussion


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